Das Kriegsende in Riehe

 aus:

 "Dem Ende entgegen"

Aufzeichnungen von Otto Lattwesen
(Lehrer der Volksschule Riehe v. 1911 – 1943)

 

29. April 1945, Cantate

Auch heute dürfen wir, getreu der Aufforderung Cantate, singen, aus vollem dankbarem Herzen singen, denn auch diese Woche verlief wie im tiefsten Frieden. Wir dürfen uns bis ½ 9 Uhr frei bewegen. Von Überfällen durch poln. oder russ. Gefangene hat man nichts gehört. Die ersten Evakuierten verlassen uns. Sie haben es von den wandernden Gefangenen gelernt, packen ihre Habseligkeiten auf Handwagen und ziehen zu Fuß der Heimat Gelsenkirchen zu. Wohl ist die Bahnstrecke Köln – Minden – Berlin wieder in Betrieb gesetzt, aber nur für die Engländer und Amerikaner. Auch heute wissen wir nichts Genaues über den Kriegsverlauf. Eine der letzten deutschen Nachrichten besagte, dass Adolf Hitler in Berlin „an der Hauptfront„ zwischen der Hitlerjugend sich befindet. Die Bevölkerung legt es so aus, dass er den "Heldentod" auf anständige Weise sucht. Der Russe hält seit 8 Tagen Dreiviertel von Berlin besetzt. Der Amerikaner „verhält„ nach dem deutschen Wehrmachtsbericht seit einer Woche östlich der Elbe und überlässt Berlin den Russen. Warum es geschieht, lässt sich bei dem Ausfall jeglicher Mitteilungen schwer sagen. Ob man das Ergebnis der St. Franzisko – Konferenz abwarten will? Sie hat am 15. April begonnen und dürfte beendet sein.

Die Deisterbahn ruht noch. Die Post hält ihre Schalter noch verschlossen. Das Licht fehlt. Brot zu erhalten wird schwierig. Von der Wiederaufnahme des Unterrichts ist noch nichts bekannt. Dagegen hat die Kirche die religiöse Unterrichtung schon für alle Schuljahrgänge aufgenommen. Die landwirtschaftlichen Arbeiten sind infolge des günstigen Wetters schnell und gut vorangekommen. Viele haben in den Gärten die Frühkartoffeln schon gehackt und können in den nächsten Tagen bereihen. Die Obstbaumblüte ist herrlich und geht dem Ende entgegen. Das Steinobst hat schon ausgeblüht. Unser Denkmal steht im Syringenschmuck. Der Maikäfer ist zum Aprilkäfer geworden. Seit 14 Tagen geht das Vieh auf der Weide.

Vom Kirchgange bringe ich ein wunderliches Gerücht nach Hause, das besagt, dass Amerika den Russen den Krieg erklärt hat. Da ist der Wunsch mal wieder der Vater des Gedankens. Soeben sehe ich von meinem Schreibtisch aus, dass auf der Autobahn alles wieder von amerikanischen Autokolonnen lebt. Hin und her geht das Getriebe. Wie schön für die Amerikaner, dass Adolf Hitler ihnen die schönen Autowege angelegt hat!

Nachtragen muß ich, dass der junge Tischler Wilkening in Haste seinen durch Brustschuß erhaltenen Verletzungen erlegen ist. Ebenso soll nicht unerwähnt bleiben, dass am Sonnabend, den 21. April dem Bauer und Schäfer K. Ostermeier von rückwandernden Franzosen nacheinander vier Schafe aus der Herde genommen wurden mit der Begründung: „Wir machen es genau so, wie die Deutschen es in Frankreich gemacht haben.„ Der Hunger wird Ursache gewesen sein, denn es muß anerkannt werden, dass sich der Franzose während der Gefangenschaft wie bei der Rückkehr sehr anständig verhalten hat. Dasselbe gilt aber auch von dem Holländer.

 

6. Mai 1945, Rogate

Wieder eine Woche ohne große Ereignisse für uns in Riehe. Wir konnten ruhig unserer Arbeit nachgehen, wenn auch von Sicherheit im allgemeinen noch lange keine Rede sein kann. So wurden noch Männern und Frauen unterwegs die Fahrräder abgenommen, Frauen bis auf den Schlüpfer entkleidet und damit auf den Heimweg geschickt. Polen und Russen dürfen sich oft sogar unter den Augen der Besatzung alles erlauben, trotzdem es heißt: „Plündern wird mit dem Tode bestraft.„ Riehe blieb bis jetzt noch verschont, und wir haben heute am Sonntag Rogate alle Ursache, Gott zu bitten, weiterhin mit seinem Schutze bei uns zu bleiben.

Berlin ist in die Hände der Russen gefallen. Von Hitler weiß man nichts Gewisses. Zuerst hieß es, er kämpfe mit der H.J. in vorderster Kampflinie. Wir schlossen daraus, um mit Philipp Scheidemann zu sprechen, dass er nur noch darauf bedacht sei, „in Schönheit zu sterben.„ Und wirklich verkündete der Auslandssender, dass er verwundet sei und in höchstens 48 Stunden mit seinem Tode zu rechnen sei. Dann wieder hieß es, dass hohe deutsche Offiziere ausgesagt hätten, dass Hitler seit Beginn der Offensive auf Berlin nie mehr in Berlin gewesen sei. Am Donnerstagabend ½ 11 Uhr – also 3. Mai – verkündete noch ein deutscher Sender, Hitler sei seinen Verletzungen erlegen. Über Göbbels wollte man wissen, dass er von einem Berliner erschossen sei. Gestern erfuhren wir – es ist wieder elektrischer Strom da – dass man die Leichen noch immer nicht gefunden habe. Reichsmarineminister Dönitz soll behauptet haben, er sei an das Sterbebett Hitlers gerufen worden, und dieser habe ihn zu seinem Nachfolger ernannt. Wo nun die Wahrheit liegt, kann mir niemand sagen. Ich persönlich möchte sogar sagen, dass alle diese Gerüchte auf falsche Fährte leiten sollen und beide irgendwo noch sich verborgen halten.

Die meisten der deutschen Truppen haben wohl kapituliert. Nur an einzelnen Abschnitten wie in der Tschechoslowakei geht der Kampf, wenn auch vollkommen aussichtslos, noch weiter. Selbst in Norwegen sollen schon Verhandlungen für die Kapitulation aufgenommen worden sein. Ich nehme an, dass in einigen Tagen sämtliche deutschen Truppen den Kampf aufgeben. Und es wäre das keine Schande, denn für sie arbeitet nicht eine Waffenfabrik mehr, und wenn irgendwo noch Munition wäre, so gibt es doch kein Transportmittel mehr, weder Eisenbahn, noch Flugzeug, noch Lastwagen. Es steht auch kein Weg mehr offen. Und ob Herrmann Göring wirklich nach Schweden entkommen ist, muß immer wohl noch bewiesen werden. Eins steht fest: Meine Überschrift, die ich diesen Aufzeichnungen gab, besteht zu recht: „Dem Ende entgegen.„

Der Unterricht darf immer noch nicht wieder aufgenommen werden. Meine Tochter, die mit unserem Hausmädchen Marie Lippmann am 30. April die geradezu lebensgefährliche Fahrt über Wunstorf – Leinhausen nach Hannover wagte und am 1. Mai glücklich wieder fluchtartig landete, hat dort erfahren, dass die Volksschule als erste bald ihre Tore wird öffnen dürfen, aller Unterricht muß aber auf christlicher Grundlage beruhen. Das setzt aber voraus, dass man die Lehrkräfte erst einer Untersuchung und Sichtung unterzieht. Die Wiedereröffnung der Hochschulen wird noch lange auf sich warten lassen. Nach dem Verhalten der Amerikaner zu der Kirche und Pfarrerschaft möchte ich annehmen, dass man als erste die theologische Fakultät eröffnet und das Studium der Theologie wohl das aussichtsreichste Fach ist.

Den Reichswirtschaftsminister Speer scheint man fürs erste auf seinem Posten zu belassen. Er hat sich denn auch im Rundfunk an Industrie, Handel, Eisenbahn und Bauern gewandt, alles daran zu setzen, den Neuaufbau zu beginnen und vor allem die Ernährung sicherzustellen. Ich befürchte nur, dass diese Aufgabe schwer zu lösen sein wird. Auf den Kopf gibt es jetzt für die Woche ¼ Pfund Fleisch oder Wurst, dazu 3 Pfund Brot. Wo Kartoffeln genug vorhanden sind, wird man an der Hungersnot vorbei kommen können. Leider mangelt es aber vielerorts auch daran, und nur Russen und Polen sichern sich ihre Vorräte.

Im Augenblick ist es trotz strömenden Regens auf der Autobahn sehr lebendig. Doch allgemein kann man wohl sagen, dass mit Beginn der Kapitulation mehr Ruhe eingetreten ist. Mit der Bekanntgabe der Kapitulationsbedingungen wird man aber in nächster Zeit wohl noch nicht zu rechnen haben. Eins steht natürlich fest: Sie werden bitter hart sein.

 

13. Mai 1945, Exaudi

Der freundliche Leser sieht vielleicht schon daran, dass ich wieder an einem Sonntage meine Eintragungen fortsetze, dass die Woche still verlief. Es ist tatsächlich so. Für unser Riehe hat sich nichts Außergewöhnliches zugetragen. Es ist, als wollte der heutige Sonntag Exaudi uns zurufen: „Der Herr hat uns erhört.„ Denn ich glaube fest, dass in den letzten Wochen mancher, mancher zum Gebet zurückgekehrt ist. Und hat er nicht, wie der Sonntag es will, um die Kraft des Heiligen Geistes gebeten, so doch bestimmt um seinen persönlichen Schutz. Nach 5 Jahren durften wir am letzten Donnerstag - den 10. Mai – wieder Himmelfahrt feiern, und seit 12 Jahren ist die Kirche nicht so gefüllt gewesen, wie an diesem Tage, und was besonders erfreulich war, dass gerade die Jugend, die konfirmierte die meisten Plätze inne hatte. Diese Jugend, die 12 Jahre geflissentlich mit „Dienst„, „Kinobesuch„, „Propagandamärschen„, „Sammlungen„ etc. vom Kirchgang abgehalten wurde. O heiliger Geist, wirke kräftig weiter an unserer Jugend und erneuere unser Volk und Volksleben. Auch heute war die Kirche gut besucht. Die zirka 100 Soldaten, Lazarettinsassen zu Bad Nenndorf, waren wohl ihrem jungen einarmigen Leutnant Öccers gefolgt, der heute zu aller Zufriedenheit den Gottesdienst hielt und Psalm 62,2 sehr fein Grundlage seiner Predigt sein ließ. Ja, man fühlt es immer wieder, dass unsere jungen Theologen den ganzen Menschen von heute zu fassen wissen, ihn in ihren Bann zwingen, und doppelt kräftig als Kriegsteilnehmer, wie unser Prediger von heute morgen, der im Kriege den linken Arm verloren hat. Uns braucht um die Zukunft unserer Kirche nicht bange zu sein. Es zeigt sich auch jetzt wieder, dass die christliche Religion die höchste und zugleich tiefste Ethik ist und bleibt.

Die deutsche Front hat überall kapituliert ohne jede Bedingung. Es verlautet, dass die endgültige engl. Besatzung unterwegs ist und das Hauptquartier in Bad Oynhausen untergebracht wird, das geräumt werden muß!

Gestern kam an die Schulen ein Rundschreiben der sogenannten Militärregierung, wonach die Schulen nicht eher eröffnet werden dürfen, bis die von ihr gelieferten Schulbücher hergestellt sind, und das kann noch Monate dauern.

Konrad Ostermeier Nr. 2 und Konrad Oltrogge Nr. 60 wurden gestern von dieser Militärregierung zu Hilfspolizisten ernannt. Ihre Hauptaufgabe besteht wohl darin, Unruhen im Keim zu ersticken und Plünderungen abzuwehren. Natürlich ist das sehr schwer, da sie ja unbewaffnet sind.

Im Augenblick schießt in Richtung Barsinghausen – Springe schwere Artillerie. Wir haben dafür keine Erklärung und denken es so, dass es wohl Freudenschüsse der Amerikaner über den gewonnenen Krieg sind. Übrigens brachte der ausländische Rundfunk – andere gibt es für uns nicht mehr – dass die Familie Göbbels vergiftet aufgefunden wurde, wo, wurde nicht mitgeteilt. Alle anständigen Deutschen sind froh, dass überall die Insassen der Konzentrationslager lebend befreit werden konnten. Und wäre nur ein Zehntel davon wahr, was man uns über die Behandlung dieser ganz besonders freiheitsliebenden, ehrlichen und aufrechten Deutschen berichtet, so genügt das hinlänglich, diese Einrichtungen als eine ewige deutsche Kulturschande durch die Geschichtsbücher aller Welt weiterleben zu lassen. Doppelt Not tut uns darum die Rückkehr zur christlichen Religion und unser Pfingstgebet: „O heiliger Geist, kehr bei uns ein.„

 

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